Antisemitismus: Drei blinde Flecken

Während die Lage in Nahost eskaliert, wächst in Deutschland der Antisemitismus. Unser Autor sucht den Antisemitismus nicht nur bei den anderen, sondern wirft auch einen selbstkritischen Blick auf unsere Kirche und unsere Theologie. Und er fragt sich und uns, wo da Antisemitismus "verdeckt" noch seine Rolle spielt. Unser Autor ist Pfarrer in Ruhe und Religionspädagoge, zuletzt tätig in Berlin-Brandenburg.

 

 

 

Drei blinde Flecken

Antisemitismus: Ein selbstkritischer Blick auf unsere Kirche / Von Stephan Philipp

 

Wenn ich nach dem 7. Oktober 2023 erschreckt zur Kenntnis nehmen muss, dass der Antisemitismus auch in Deutschland wieder sichtbarer und bedrohlicher wird, dann will ich nicht  mit dem Finger auf andere, auf Schuldige zeigen, sondern innehalten und mich und meine Kirche selbstkritisch nach eigenen Anteilen befragen.

Mit meinem von der ForuM-Studie
(siehe https:
//www.forum-studie.de/wp-content/uploads/2024/01/Zusammenfassung_ForuM.pdf)
geschärften Blick lasse
ich mir einen Spiegel vorhalten und frage: Sind die blinden Flecken meiner Kirche, die bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderer Missbrauchsformen eine Rolle spielen, auch beim Thema Antisemitismus zu entdecken? Als solche empfinde ich in der Studie z. B. die kirchliche Selbstdefinition als progressiv, die Verkopplung von Schuld und Vergebung mit Ausklammerung von Reue, die Abwehr des Themas im Modus der Selbstüberhöhung, der ein Besser-Sein suggeriert. Vordergründig hat Antisemitismus selbstverständlich keinen Platz in unserer Kirche, darin sind sich alle einig. Aber verdeckt spielt er weiterhin eine Rolle, ist meine These:

 

Erster blinder Fleck: Die Bekennende Kirche gilt uns bis heute als Identitätsanker und als Vorbild in ihrer Abgrenzung vom Nationalsozialismus, dabei bleibt ihre unheilvolle eigene Verstrickung in antisemitische Überzeugungen und Praktiken der Zeit unterbelichtet. Allgemein anerkannt wird inzwischen, dass in der Barmer Theologischen Erklärung, im Stuttgarter Schuldbekenntnis oder im Darmstädter Wort keine ausreichende Distanzierung vom Nationalsozialismus und vom Holocaust zu finden ist; weder explizit noch implizit. Auch spätere Texte von Synoden oder Kirchentagen beschreiben zwar christliche Schuld zutreffend, korrigieren aber nicht grundsätzlich einen verklärenden Blick auf die Bekennende Kirche. Beispielsweise wurde bisher die Mitgliedschaft von BK-Leuten in der NSDAP oder in anderen NS-Organisationen nur selten thematisiert (siehe ausnahms-weise z. B. Zeitzeichen 5/2024, Schneider: Kein Widerstand gegen die Nazis). Zur Frage, wie die BK selbst Antisemitismus zuließ, förderte oder unterstützte, muss also weiter kritisch gefragt werden.

 

Zweiter blinder Fleck: Wir praktizieren eine Erinnerungskultur mit Schuldbekenntnissen, Gedenkstättenarbeit, Stolpersteinen usw., bezogen auf die Opfer des National-sozialismus, die in uns die Überzeugung nährt: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Doch dabei begleiten uns bei der Auslegung der Heiligen Schrift weiterhin antijudaistische Stereotype und Fehldeutungen.

Immer wieder frage ich mich irritiert: Was führte dazu, dass der Nationalsozialismus gerade im Mutterland der Reformation auf so fruchtbaren Boden fiel? Ich nehme wahr, dass der Antijudaismus offenbar tief verwurzelt ist in unserem evangelischen Verständnis der Heiligen Schrift und des Glaubens in unserer Kirche. Die Rechtfertigungslehre als Zentrum lutherischer Theologie wird immer noch von zu vielen interpretiert als Unterscheidungsmarker gegenüber Katholiken oder Juden, die im Gegensatz zu uns „gesetzlich“ seien.

Der gnädige Vatergott wird dann als christliches Spezifikum behauptet und der Gott Zebaoth zum „Rachegott des AT“ stilisiert. Jesu „Ich-Aber-Sage-Euch“ wird verkannt als Abgrenzung von Juden, dabei gehört es in eine innerjüdische Debatte, so wie auch das ganze NT als Zeugnis einer spezifischen Form des jüdischen Glaubens im 1. Jahrhundert gelesen wer-den kann und muss.

Solche Erkenntnisse aus dem christlich-jüdischen Gespräch kommen viel zu wenig an der Basis der Gemeinden an, und leider auch zu wenig bei meiner eigenen Zunft der protestantischen Schriftgelehr-samkeit.

 

Dritter blinder Fleck: Die Errungenschaften des christlich-jüdischen Dialogs verführen uns zur Vereinnahmung des Jüdischen und gaukeln uns eine besondere Nähe und Verbundenheit vor. Dabei wird die fast zwei Jahrtausende alte christliche Abgrenzungs-, Abwertungs- und Verfolgungsgeschichte gegenüber der jüdischen Gemeinschaft ausgeblendet.

Wir Christen sind nach dieser Geschichte eher schwierige Partner:innen; eigentlich können wir die Gesprächseinladung von jüdischer Seite nur dankbar annehmen im Wissen darum, was hinter uns liegt (und leider auch weiter wirkt): 

l der christliche Anspruch, ein beson-deres Verhältnis zum Judentum, zu Israel zu haben, dieses dann aber lediglich als Negativfolie für das eigene christliche Selbstverständnis zu missbrauchen – siehe z. B. das Substitutionsmodell oder das Typologiemodell;

l die christliche Sicht auf die Heilige Schrift, in der unser „neues“ Testament dem „alten“ gegenübersteht und tendenziell sich den Tenach aneignet und diesen vielleicht sogar aufhebt;

l die Behauptung einer gemeinsamen jüdisch-christlichen Identität, die das Unterschieden- und Anderssein außen vor lässt.

Vielleicht kann das jüdisch-christliche Gespräch uns auf einen Weg führen, der auch sonst in Mehrheits- und Minderheitssituationen der Gesellschaft als Weg von der Ausgrenzung über die Toleranz und die Integration zur Inklusion gegangen wird. Die Diversität von Christen und Juden kann dann als Reichtum verstanden werden: im Staunen und Freuen darüber, dass jüdische Theologie und Glaubenspraxis anders sind als unsere.

 

Unser Autor, Stephan Philipp, Pfarrer i. R., war Studienleiter für Religionspädagogik im Amt für kirchliche Dienste (AKD) in Berlin. Dieser Text erscheint auch in unserem neuesten b+k-Heft.