Immer weniger Deutsche sind religiös, immer weniger fühlen sich der Kirche verbunden. Das zeigt, auf zwei kurze Sätze verknappt, eine neuen Kirchenmitgliedschaftsstudie. Laut dieser seit 1972 sechsten Untersuchung, einer soziologischen Langzeitstudie, ist noch eine knappe Mehrheit der Deutschen christlich-konfessionell gebunden - evangelisch, katholisch oder orthodox. Nach derzeitigem Trend werde aber bereits im nächsten Jahr der Anteil der christlich-konfessionell Gebundenen unter 50 Prozent sinken. Menschen ohne eine Religionszugehörigkeit werden voraussichtlich Ende der 2020er Jahre die 50-Prozent-Marke überschreiten und damit die Bevölkerungsmehrheit stellen, wie Christopher Jacobi, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD bei der Vorstellung der Studie auf derjüngsten Tagung der EKD-Synode in Ulm erläuterte.
Die Studie verrät aber auch: Die Erwartungen vieler Menschen an Kirchen, auch derjenigen, die nicht mehr sich der Kirche verbunden fühlen, sind trotzdem hoch. Ein Widerspruch? Zur Grundaussage der Studie lesen Sie hier einen kritischen Kommentar von unserem AEE-Sprecher Johannes Herold:
Die KMU ist raus - hilft sie uns weiter??
Eine kritische Anmerkung zur EKD-Mitgliedschaftsstudie / Von Johannes Herold
Alle 10 Jahre untersucht das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD in einer großen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchen (KMU) die Haltungen der Bevölkerung zur Kirche. Der Titel von 2023 lautet "Wie hältst du's mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft."
Nun bieten diese Studien eine Fülle von interessanten Einblicken, die Auswertung und öffentliche Rezeption werden sich noch lange hinziehen - vermutlich ungefähr bis zur nächsten Studie.
In einem echten Coup der Öffentlichkeitsarbeit wurde die Studie im Rahmen der EKD-Synode an die Öffentlichkeit übergeben, was eine enorme Aufmerksamkeit generiert hat - dazu kann man nur gratulieren!
Zeitgleich mit der Studie wurde allerdings auch ein kritisches Statement veröffentlicht von drei Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats der KMU: Kristin Merle, Reiner Anselm und Uta Pohl-Patalong stellen ernste Anfragen an die Methodik dieser KMU (Link zum Artikel: https://zeitzeichen.net/node/10806?fbclid=IwAR2B6hO4-nj3oBsOTrrAn-KmFOz4iXFJT4FiQN4iyraepqre0BJXc2Glm9o).
Aufhänger der Debatte ist die Frage, inwieweit die Ermittlung der Religiosität der Befragten Aussagekraft für die Bezeichnung als kirchennah oder -fern haben kann. Die Kirchennähe möchte die KMU ermitteln über die Zustimmung zu zwei Aussagen: "Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat." Und etwas distanzierter die Aussage: "Ich glaube, dass es ein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt."
Wer nicht einer dieser beiden Aussagen zustimmt, fällt aus der Gruppe der Kirchennahen heraus.
Folgt man den Kritikern - und das halte ich für sinnvoll - so erscheint das Kriterium für die Kirchennähe von Menschen doch zu einer self-fullfilling-prophecy zu führen: Da werden hoch theologische Fragen gestellt und an Hand der wenigen positiven Antworten darauf dann behauptet, dass die Menschen immer weniger religiös sind.
Nun ist das Messen von Religiosität bekanntermaßen schwierig - umso problematischer erscheint es, wenn ausgerechnet solche Kriterien herangezogen werden, um die Kirchennähe von Menschen zu bestimmen.
Direkt ärgerlich wird es, wenn man bedenkt, dass es genau diese Zahlen sind, die von den Medien aufgegriffen und als erste und dann letztlich auch einzige Neuigkeit verbreitet werden. Dabei stellt die KMU doch durchaus spannende Fragen! Zum Beispiel die Frage nach dem Vertrauen in verschiedene Institutionen, wo die Evangelische Kirche mit einem Wert von 4,5 (auf einer Skala bis 7) nah dran liegt an unserem Justizsystem bei 4,7. Oder die Tatsache, dass 2/3 aller evangelischen Kirchenmitglieder meinen, dass eine Selbstbeschränkung der Kirche auf religiöse Fragen nicht wünschenswert wäre. Und schließlich die Motive von Menschen, die für eine Kirchenmitgliedschaft sprechen:
„Ich bin in der Kirche, weil sie sich für Solidarität und Gerechtigkeit in der Welt und die Zukunft der Menschheit einsetzt“ und „Ich bin in der Kirche, weil sie etwas für Arme, Kranke
und Bedürftige tut“ - diese beiden Sätze bekommen die höchsten Zustimmungswerte. Hier liegt die Bindungskraft für unsere Kirchenmitglieder. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass Säkulare und zur Säkularität tendierende Menschen in einer für sie verständlichen Weise angesprochen werden müssen.
"Säkulare sind aus verschiedenen Gründen eine wichtige Zielgruppe. Sie sind inzwischen gesellschaftlich majoritär. Auch unter den Kirchenmitgliedern ist ihr Anteil nicht unerheblich, und sie zu ignorieren, käme einer Selbstmarginalisierung gleich. Säkulare sind mit einer religiösen Sprache schwer erreichbar. Die Kirche muss daher ihre Anstrengungen verstärken, ihre Botschaft in einer Sprache zu formulieren, die anschlussfähig ist." (KMU 6, S. 39).
Und schließlich wird deutlich, welche Aktivitäten von der Kirche gefordert sind: Eine Steigerung ihrer Attraktivität kann die Kirche in der aktuellen Lage nicht über rein religiöse Aktivitäten gewinnen. „Heiliges“ wird nicht erwartet, die Nachfrage nach Religion ist gering. Ein religiöser Fokus kann zudem zu einer Distanzierung der Mehrheit der säkularen und distanzierten Kirchenmitglieder führen, weil sie ätan solche Ausdrucksformen schwer anschließen können. Am meisten gefragt, erwartet und eingefordert werden Aktivitäten der Kirche im Bereich sozialen und solidarischen Handelns. Setzt die Kirche hier einen Schwerpunkt, wird sie die größte Zustimmung und Attraktivität entfalten können.
Das mag der Kirche nicht gefallen - wir hätten das Kirchenvolk vielleicht gerne frömmer, ansprechbarer für das Heilige an und in unserem Leben. Aber wenn wir uns die Botschaft Jesu anschauen, dann finden wir doch viele Anknüpfungspunkte an die Erwartungen der Menschen.
Das ist die gute Nachricht der KMU 6: Wir müssen uns als Kirche nicht verbiegen, sondern die Nachfolge Jesu wird direkt von uns erwartet. Hier können wir bei den Menschen punkten - und zugleich das tun, was uns unser Glaube aufträgt.